Der eigenen Stimme vertrauen

Wir waren neun Schüler*innen, saßen in drei Stuhlreihen hintereinander, ich genau in der Mitte, um uns herum die anderen aus unserer Klasse. Ausgewählt worden waren wir von Studierenden des soziologischen Instituts in Köln. Sie kamen seit geraumer Zeit regelmäßig in unseren Soziologieunterricht, um uns in soziologisch-psychologisches Denken und entsprechende Forschungsmethoden einzuführen. Die uns diesmal gestellte Aufgabe schien leicht. Es wurden jeweils vier Striche  auf eine Leinwand projiziert, von denen zwei gleich lang waren, einer war kürzer und einer länger. Wir sollten angeben, welche gleich lang waren. Bei den ersten Runden ging alles glatt. Die vor mir und die nach mir Sitzenden gaben die Striche als gleich lang an, die ich auch als solche sah. Aber nach einer Weile bezeichneten sie Striche als gleich lang, die ich als unterschiedlich wahrnahm. Ich war verunsichert: Wieso sahen sie nicht das, was ich sah, aber vielleicht hatten sie ja auch recht. Es waren ja immerhin vier vor mir, die so entschieden und sich einig waren. Also passte ich mich an, zumindest meistens tat ich das, und entschied so wie sie. Ich kann mich noch deutlich an das damals erlebte Unwohlsein, die Verunsicherung und Angst erinnern, als ich mich gegen die Wahrheit meiner eigenen Wahrnehmung entschied; ich den anderen folgte, und mir mehr und mehr die Linien vor den Augen verschwammen. Schon bald wusste ich kaum noch, was ich da eigentlich sah.  Am Ende dieses quälend langen Experiments stellte sich heraus, dass ich die einzige Versuchsperson gewesen war.  Ich, die sich eher als antiautoritäre Revoluzzerin und Rebellin begriff und auch von meinen Klassenkameraden so gesehen wurde, entpuppte sich als jemand, die sich ohne äußeren Zwang einer Mehrheitsmeinung anpasste und dafür bereit war, ihre Wahrheit beiseite zu schieben.  Am liebsten wäre ich vor Scham im Erdboden versunken.

Im ZEIT-Magazin im Mai 2018 begegnete ich diesem Experiment erneut, und zwar in einem Beitrag von Stefan Klein zum Thema: Wie entsteht Ideologie? Ich erfuhr, dass es sich um ein bahnbrechendes Experiment des Sozialpsychologen Solomon Asch gehandelt hatte, das erstmals 1951 stattgefunden und damals wie auch unzählige Male danach immer zu denselben Ergebnissen geführt hatte. Nicht einmal jede vierte Versuchsperson schaffte es, der eigenen Wahrnehmung zu folgen, wenn sie von anderen nicht bestätigt wurde, sondern ihr eine andere entgegengesetzt wurde. Für ihn, der mit seiner Familie vor den Nazis in die USA emigrieren musste, war es ein erhellendes Experiment, um zu verstehen, warum Menschen sich von mühelos erkennbaren Propagandalügen einfangen lassen.

2005 wurden bei dem Experiment die Aktivitäten im Gehirn der Probanden im Kernspintomografen vermessen, während sie ihr Urteil abgaben. Erhellend und erschreckend war das Ergebnis. In den Bereichen des Gehirns, die sonst für Lügen und den Umgang mit Widersprüchen zuständig sind, ließen sich keine Signale feststellen, dafür in Hirnarealen für räumliche Wahrnehmung. Offenkundig wurden die von den Augen übermittelten Rohdaten so lange bearbeitet, bis die Wahrnehmung mit dem übereinstimmte, was die anderen behaupteten. Die Meinung anderer lässt uns also eine Wirklichkeit wahrnehmen, die gar nicht existiert. In Folge unserer Wahrnehmungen aber konstruieren wir unsere Welt, denken und handeln wir.

Dieses Experiment zeigt sehr deutlich, warum es so schwierig ist, (auf) die eigene Stimme zu hören, wenn sie nicht im Gleichklang mit anderen Stimmen in unserem Umfeld ist. Andere sozialpsychologische Studien, die sich damit beschäftigen, wie Menschen reagieren, die von anderen ignoriert oder ausgeschlossen werden, oder damit, was Menschen alles zu tun bereit sind, nur um (wieder) dazuzugehören, belegen ebenfalls sehr nachdrücklich, wie existenziell notwendig für uns Menschen als soziale Wesen Gemeinschaft, Zugehörigkeit, Gesehenwerden und Bestätigung sind. Diesen Bedürfnissen begegnen wir nicht nur im privaten oder politischen, sondern auch im spirituellen Bereich.

Katholisch aufgewachsen und als Kind sehr fromm, mit dem starken Wunsch, Priester (als ich noch nichts davon wusste, dass mir das als weiblich geborener Mensch gar nicht möglich war) oder Nonne zu werden, verlor ich als Jugendliche meinen Glauben an den Gott meiner Kindheit. Nach Phasen der Beschäftigung mit Existenzphilosophie, linken Bewegungen und dem Feminismus, begegnete ich vor mehr als 35 Jahren dem Buddhismus. Dies zu einer Zeit, als er auch für viele meiner Altersgenoss*innen zu einer attraktiven Alternative zu westlichen Traditionen wurde. Der Buddhismus  schien gerade in seinem Personal (Dalai Lama, Thich Nhat Hanh usw.) für Frieden, Glück und eine Freiheit zu stehen, denen noch die widrigsten Umstände nichts anhaben konnten, und er lehrte Methoden und Praktiken (vor allem Meditation), die dies auch uns in Aussicht stellten – wenn wir nur genug Vertrauen aufbrachten, praktizierten und uns einließen auf diese uns zunächst sehr fremde, exotische Welt.

Wir tauschten damals eine in mancherlei Hinsicht fragwürdige Praxis (Christentum, Politik) gegen eine viel-versprechende neue Welt beziehungsweise Theorie ein, kamen aus Kampfzonen, in denen es gegen westliche Autoritäten ging, und unterwarfen uns oftmals recht bereitwillig den Meistern aus dem Osten, die uns diese neue Religion, ihre Lehren und Praktiken näherbrachten. Wir fanden uns in Meister-Schülerbeziehungen wieder, denn wir suchten nichts weniger als die Erleuchtung,  Nirvana, das unvergängliche Glück – die großen Versprechen des Buddhismus ­- und diese Beziehungen sollten, so hatten wir gehört oder gelesen, dafür eine notwendige Bedingung sein. Wir bildeten Gemeinschaften, um auf diesem Weg nicht allein zu sein und uns zu unterstützen.

Doch diese Gemengelage ähnelt nur allzu oft dem oben beschriebenen Experiment: Wir suchen die Welt so zu sehen, wie uns die Lehrenden vorgeben; vermeinen der Wirklichkeit zu begegnen, wenn wir in Wahrheit auf Dogmen treffen, beginnen unseren Intuitionen zu misstrauen und sie beiseitezuschieben und verlieren unseren inneren Kompass für das, was (ethisch) gut und richtig ist.   Wir halten den Buddhismus auch dann noch für die friedlichste Religion der Welt, wenn uns ein Blick nach Myanmar, Sri Lanka oder Thailand eines Besseren belehren könnte. Wir halten an Meister-Schüler-Beziehungen als Lehr-und-Lern-Modell fest, auch wenn Missbrauchsskandale sich häufen.

Meine erste Zenmeisterin empfahl immer wieder Schüler*innen, zum weiteren Zentraining zu ihrem  (japanischen) Meister nach Kalifornien zu gehen. Sie selbst hatte sich einige Jahre vorher von ihm getrennt. Über die Gründe sprach sie nur ausweichend. Auch wenn das digitale und social media Zeitalter noch nicht mal in den Kinderschuhen steckte, kannten viele von uns nahen Schüler*innen die Gerüchte, dass der Meister vor allem gegenüber seinen Assistentinnen – aber es traf auch andere Frauen während des Dokusan (Einzelgespräch) – regelmäßig sexuell übergriffig wurde. Doch empörte uns das oder konfrontierte jemand von uns unsere Lehrerin damit, wie unverantwortlich es war, junge Frauen zu ihm in die Lehre zu schicken? Ich glaube nicht. Zen war eben nichts für Feiglinge und zarte Gemüter, so zumindest eine damals sehr verbreitete Sicht, die ich teilte, da sie auch mich selbst in gewisser Weise „adelte“. Und dem Meister die Brüste zeigen oder Einheit mit ihm manifestieren, wie er es wohl oft von jungen Frauen im Dokusanraum forderte, bedeutete das nicht letztlich die Chance, zu zeigen, wie frei frau sich schon von dualistischen Konzepten gemacht hatte? Denn das war ja eine Voraussetzung für die Erleuchtung, und die hatte möglicherweise für Frauen einen anderen Preis als für Männer.

Der Meister konnte sein Verhalten im Übrigen noch jahrzehntelang fortsetzen. Er war bereits über 100 Jahre alt, als die Sangha-Verantwortlichen endlich bereit waren, ihre schützende Hand nicht mehr über ihn und seine Taten zu halten, sondern sie seinen zahllosen Opfern zu reichen. Doch da verfing wohl auch die Drohung des Meisters, mit dem Lehren aufzuhören, aufgrund seines altersbedingten Geisteszustands nicht mehr, die bei früheren zaghaften Versuchen, sein Verhalten nicht mehr hinzunehmen, sondern es öffentlich zu machen und zu verurteilen, noch sehr wirksam gewesen war. Und auch der Zeitgeist hatte sich verändert und damit auch die Vorstellungen über Zen und die zu akzeptierenden Zumutungen spiritueller Praxis. Und damit veränderte sich dann auch die individuelle Wahrnehmung. Eine ehemalige Schülerin eines bekannten tibetischen Meisters erzählte mir einmal, dass sie vor Jahren eine halbnackte Frau aus dem Zimmer des Meisters stürzen sah, mit ihren Kleidungsstücken auf dem Arm und offenkundig in ziemlicher Aufregung. Und sie erinnerte sich noch genau, dass sie in dem Moment gedacht hatte, welch großartige und machtvolle Belehrung diese Frau wohl erhalten habe und keine Sekunde lang an Sex oder sexuelle Übergriffigkeit seitens des Meisters, was ihr nun angesichts der mittlerweile bekannt gewordenen massiven Vorwürfe vieler Frauen über entsprechende Übergriffe unvorstellbar erschien.

Wir neigen dazu, unsere Wahrnehmungen oder zumindest die Interpretation unserer Wahrnehmungen dem anzupassen, was in unserer peer group als gültige Wahrnehmung und als angemessene Sichtweise oder Ausdrucksform akzeptiert wird Und dafür sind wir zu den erstaunlichsten Anpassungsleistungen fähig. Manchmal passen wir uns ganz bewusst an, weil wir uns davon Vorteile versprechen, manchmal geschieht es aus Angst, das zu verlieren, was uns wichtig oder sogar zum Lebensinhalt geworden ist, manchmal ist es so subtil, dass wir nur bei größter Achtsamkeit und Sensibilität merken, was wir tun. Wir spüren es am ehesten, so meine Erfahrung, an unseren körperlichen Reaktionen, Anspannung, leichtes Schwitzen, Unwohlsein. Meist geht es ja gar nicht um so große Dinge wie der Konfrontation mit Missbrauch oder Übergriffen, die wir uns so lange entsprechend der „herrschenden Ideologie“ umdeuten, bis wir sie als segensreich betrachten. Manchmal spüren wir, dass unser Lehrer eine Schülerin „auf dem Kicker“ hat, und fast unmerklich ändert sich auch unser Verhältnis zu der betreffenden Person. In Austauschrunden versuchen wir persönlich und „authentisch“ zu wirken, wenn wir das Gefühl haben, dies sei angesagt; intellektuell und reflektiert, wenn das der Gruppenkonsens zu sein scheint. Manchmal schließen wir uns vielleicht schnell der Meinung unserer Sanghafreund*innen an, der Vortrag unserer Lehrerin sei überaus tiefgründig und subtil gewesen, und ignorieren das möglicherweise nur leise, kurze Empfinden, dass da viel Worte um recht wenig gemacht worden sind und wir es gar nicht inspirierend, sondern eher dürftig fanden. Wir verlangsamen unsere Schritte, schauen versonnen lächelnd eine Blume an, trinken achtsam unseren Tee, wenn wir sehen, dass andere in dem entsprechenden Kontext dies tun und auch wir den Eindruck einer achtsamen, bewussten Person hinterlassen wollen. Wir bewegen uns leicht gebückt, wenn wir uns in bestimmten tibetisch-buddhistischen Zusammenhängen bewegen. Wir finden es ganz in Ordnung, wenn der Lehrer seine Übersetzerinnen öffentlich fertigmacht und demütigt, denn wir wissen ja, dass er ihnen damit nur helfen will. Und wir sehen uns von Strömen muslimischer Migranten bedroht, wenn der Lehrer unentwegt vor ihnen und ihrer Religion warnt …

Wir leben stets in einem bestimmten Zeitgeist, in bestimmten Kontexten, in kulturellen, spirituellen Bezugssystemen, zu denen wir ja auch eine Resonanz empfinden, wenn wir sie uns freiwillig ausgesucht haben, anders als die Gesellschaft, die Familie, in die wir hineingeboren worden sind. Und sie alle prägen uns, prägen das, was wir denken, sehen, empfinden, wie wir handeln. Wir sind, durch und durch bedingt. Sich dessen mehr bewusst zu sein hilft zum einen, einer gewissen Selbstgerechtigkeit vorzubeugen und eine realistischere, aber auch mitfühlendere Sicht auf sich selbst und die anderen zu entwickeln. Aber es entbindet uns, so denke ich, nicht der Notwendigkeit auszuloten, ob es da vielleicht auch so etwas wie die eigene Stimme geben könnte. Ich glaube daran, dass es sie gibt, nicht zuletzt als eine Art inneren Kompass, eine Art Intuition für das, was moralisch richtig und gut, für uns „stimmig“ ist. Vielleicht drückt sie sich zunächst in den oben schon erwähnten körperlichen Reaktionen aus. Diesen unsere Aufmerksamkeit zu schenken und dem, was sie uns sagen wollen, zu lauschen, scheint mir wichtig. Wenn wir dieser Stimme, so leise und undeutlich sie auch zunächst klingen mag, mehr Gehör schenken, ihr vertrauen lernen und sie stärken, werden wir künftig vielleicht auch in schwierigen Situationen den Mut aufbringen, die Striche als gleich lang zu bezeichnen, die wir als gleich lang sehen, ganz unabhängig davon, was die Menschen um uns herum sagen und welche Unsicherheit und Angst wir möglicherweise dabei zunächst empfinden. Und wir werden dann (auf) die eigene Stimme nicht nur hören, sondern sie auch erheben, sollten wir etwas sehen oder erleben, was nicht in Ordnung ist, selbst wenn es (angeblich) im Namen heiligster Dinge oder Wahrheiten geschieht und dauerhaftes Glück verspricht. Im Moment scheint uns der Zeitgeist dabei sogar zu helfen.

2 Meinungen zu “Der eigenen Stimme vertrauen

  1. Dr. Roswitha Goslich sagt:

    Vielen Dank, sehr geehrte Frau Richard ich habe mit großem Interesse und Respekt Ihre offenen Worte im Buddha-Talk „Was mir (…) übrig blieb“ angehört und mit Frauen aus anderen Kontexten besprochen.

  2. Romy Berner sagt:

    Liebe Frau Richard,

    ein sehr heilsamer Text und genau das, was ich gerade brauchte.

    Liebe Grüße
    Romy Berner

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