Facetten des Scheiterns

Ein bekanntes Zen-Koan erzählt von einer Frau namens Chiyono, die als Dienerin in einem Zen-Kloster lebt und hingebungsvoll Zazen praktiziert. In einer Vollmondnacht geht sie nach draußen, um Wasser aus einem Brunnen zu schöpfen. Der Boden ihres alten Eimers, von Bambusstricken zusammengehalten, fällt plötzlich heraus, und mit dem auslaufenden Wasser verschwindet auch die Spiegelung des Mondes. Als sie das sieht, erlebt sie ein großes Erwachen. Ihr Erleuchtungsgedicht lautet:

Hiermit und damit versuchte ich, den Eimer zusammenzuhalten, und dann fiel der Boden heraus. Wo Wasser sich nicht sammelt, verweilt der Mond nicht.

Vermutlich ist sie als Dienerin regelmäßig zum Brunnen gegangen, um Wasser zu schöpfen, und wahrscheinlich hat sie die Bambusstricke immer wieder neu um den Boden des Eimers gewickelt, immer wieder etwas ausgebessert, damit der Eimer hält und nicht auseinanderfällt. Und dann geschieht es doch – der Boden fällt heraus, das Wasser läuft aus.

Ähnliches geschieht auch manchen von uns: Wir strengen uns an, unser Leben, das, was uns wichtig und bedeutsam erscheint, zusammenzuhalten, reparieren hier, optimieren da – und dann kracht das alles zusammen. Alles, was uns wichtig war, unserem Leben Sinn und Bedeutung gab, all unsere Konzepte lösen sich auf – und wir fallen in eine Bodenlosigkeit.

Für Chiyono war diese Erfahrung befreiend und führte zu ihrem Erwachen. (Sie war damit die erste Frau in Japan, deren Erleuchtung offiziell anerkannt wurde, und den Brunnen samt Inschrift mit ihrem Gedicht gibt es heute noch.) Die meisten von uns aber holen sich oft erst einmal eine blutige Nase, bevor wir realisieren, dass sich dann, wenn wir nichts mehr zusammenhalten, kontrollieren können, immer auch etwas öffnet. „Ein Riss ist in allen Dingen. So kommt das Licht hinein“, singt Leonard Cohen, der in seinem Leben sicher einige Risse hautnah erlebt (und nicht zuletzt deshalb etliche Jahre in einem Zen-Kloster praktiziert) hat.

„Du kannst nicht tiefer fallen als in Gottes Hand“,

heißt es in einem christlichen Lied. Dieser Satz wurde einer breiteren Öffentlichkeit bekannt, als die Theologin und damalige Ratsvorsitzende der Evangelischen Kirche in Deutschland, Margot Käßmann, ihn anlässlich ihres Rücktritts von all ihren kirchlichen Ämtern zitierte, nachdem sie stark alkoholisiert Auto gefahren und dabei erwischt worden war. Für mich ist er, muss ich gestehen, einer der tröstlichsten Sätze, die ich kenne, denn er verweist so bildhaft-anschaulich darauf, dass wir alle getragen sind und dieses Getragen- und Gehaltensein besonders dann spüren und erleben können, wenn wir fallen, wenn uns der Boden unter den Füßen wegrutscht, unsere gewohnten Sicherheiten, Konzepte und Ideen sich als Irrtümer erweisen – wenn wir das Gefühl haben, gescheitert zu sein.

Wir strengen uns an, unser Leben, das, was uns wichtig und bedeutsam erscheint, zusammenzuhalten, reparieren hier, optimieren da – und dann kracht das alles zusammen.

Tore zu neuen Möglichkeiten

Vor einigen Jahren hielt die bekannte buddhistische Lehrerin Pema Chödrön vor Hochschulabsolventen der Naropa Universität im US-amerikanischen Bundesstaat Colorado einen Vortrag, in dem sie das Scheitern zu einem zentralen Thema machte. Zusammen mit einem ausführlichen Interview erschien er als Buch unter dem Titel „Fail, Fail again, Fail better“ und in der deutschen Übersetzung als „Das Glück des Scheiterns“1. In diesem Vortrag spricht sie darüber, dass in unserer westlichen Gesellschaft der Erfolg eine ungemein große Rolle spiele und erfolgreiche Menschen meist großes Ansehen genießen und Studierende diesbezüglich sicher vieles lernen würden, es letztlich aber doch wichtiger sei, die hohe Kunst des Scheiterns zu erlernen. Dies helfe uns „mehr als alles andere im Leben – in den nächsten Monaten, im nächsten Jahr, in den nächsten zehn Jahren, den nächsten zwanzig Jahren, solange wir leben, bis wir tot umfallen.“2 Denn es wirft uns zunächst einmal auf uns selbst zurück, gibt uns damit die Chance, uns besser kennenzulernen. Wenn sich für uns alles immer nur im erwartbaren Rahmen abspielt, besteht dazu kaum ein Anlass. Das Scheitern hingegen öffnet uns meist Tore zu neuen Möglichkeiten.

Wenn die Dinge nicht so laufen, wie wir es erwartet haben, wenn wir scheitern, sei es in unseren Partnerschaften, familiären oder freundschaftlichen Beziehungen, unserer Arbeit, unseren spirituellen oder sonstigen Ambitionen, dann sind wir, Pema Chödrön zufolge, in besonderem Maße mit unserer Verletzlichkeit konfrontiert. Und dann sind wir oft schnell dabei, die damit verbundenen Gefühle loswerden zu wollen. Meist geschieht das, indem wir entweder der anderen Person, den Umständen oder uns selbst die Schuld geben, indem wir glauben, entweder wir oder die anderen hätten versagt. Wir können aber auch einen dritten Weg beschreiten und der besteht laut Pema Chödrön darin, die „rohe Verletzlichkeit im Herzen zu halten“ und die Gefühle des Schmerzes, der Wut, der Hoffnungslosigkeit und Verzweiflung, die vielleicht in uns auftauchen, einfach nur zu fühlen und ihnen nicht auszuweichen. Thich Nhat Hanh spricht davon, schmerzhafte Gefühle zu umarmen. Wenn wir das tun, öffnet uns das die Augen oder eher alle Sinne dafür, wie die Dinge, wie die Natur unserer Gefühle wirklich ist, sich ständig verändernd, fließend, dynamisch, Energie.

Perspektiven weiten

Vor Kurzem nahm ich an einer Zoom-Veranstaltung teil, in der wir gemeinsam ein Koan betrachteten und uns darüber austauschten. Darin ging es um eine alte Frau im China des 8. Jahrhunderts, die an einer Weggabelung lebte, dort vielleicht einen kleinen Laden führte und von vorbeikommenden Mönchen öfter gefragt wurde, wie sie denn zum Berg Wutai kämen. Die Frau pflegte dann zu antworten: „Einfach immer geradeaus.“ Nachdem der Mönch ein paar Schritte vorbeigegangen war, sagte sie: „Er ist ein guter Mönch, aber schon verläuft er sich wie alle anderen.“ Den Weg gehen und sich dennoch verlaufen. Geradeaus und doch in die Irre gehen – scheitern.

In dieser Zoom-Veranstaltung saß ich durch eine vorangegangene schwierige Situation emotional sehr aufgewühlt und mir schien, als müsste ich umgehend eine recht weitreichende Entscheidung treffen. Ich übersetzte für mich die Frage des Mönchs in: „Welches ist der (bessere) Weg raus aus dem Leid?“ – Von der Antwort „Geh einfach geradeaus – und wenn du es tust, gehst du in die Irre“ fühlte ich mich dann wie mit einer Schlinge eingefangen; jede weitere Flucht schien mir verbaut. Mir wurde klar, dass ich so sehr den für mich richtigen Aus-Weg finden wollte, dass ich dafür das Jetzt in all seiner Vielschichtigkeit zu opfern bereit war. Inspiriert durch diese Geschichte tauchte ich in den folgenden Meditationen tief in meine Gefühle ein und suchte ihnen nicht länger zu entkommen – das war für mich das Geradeausgehen. Es war schmerzhaft, aber es brach auch mein Eingekapseltsein in die scheinbare Notwendigkeit einer Entweder-oder-Entscheidung auf, weitete meinen Blick und öffnete mich wieder für die Welt. Und ich fiel dabei so tief, dass ich gleichzeitig ein Gefühl des Getragenseins und der Geborgenheit empfand.

Wirklichkeit hinter Gittern

Als Pema Chödrön ihren Lehrer Chögyam Trungpa zum ersten Mal traf, schaffte sie es, ihm am Ende des Gesprächs zu gestehen: „Mein Leben ist vorbei. Ich bin am Boden zerstört. Ich weiß nicht mehr, was ich tun soll. Bitte helfen Sie mir.“ Und er sagte zu ihr: „Ja, es ist so ähnlich, wie wenn du ins Meer hineinläufst, und plötzlich kommt eine große Welle und wirft dich um. Du findest dich am Boden wieder und hast Sand in der Nase und im Mund. Dort liegst du, aber du hast die Wahl. Entweder bleibst du einfach liegen, oder du stehst auf und läufst weiter ins Meer hinein … Die Wellen werden auch weiterhin kommen … Dann stehst du immer wieder auf und gehst immer wieder weiter.“

Aber können wir denn überhaupt wirklich scheitern? Scheitern ist ja nichts, das tatsächlich geschieht; es ist ein Konstrukt, eine Vorstellung, die wir durch unsere Geschichten schaffen und am Leben erhalten. Wir erzählen uns fortwährend Geschichten über uns und die Welt, und diese konstituieren das, was wir für unser Ich halten, und das, was unserem Leben Sinn und Bedeutung gibt. Wir machen uns Vorstellungen davon, wie wir, wie die Dinge zu sein haben, und wenn etwas davon in einer Weise abweicht, die wir als negativ für unser Wertesystem ansehen, sich nicht so entwickelt, wie gedacht oder erhofft, nicht unseren persönlichen Maßstäben oder internalisierten gesellschaftlichen Normen entspricht, sind wir enttäuscht, frustriert, wütend, traurig, haben das Gefühl, wir seien gescheitert. Letztlich gibt es also unsere Vorstellungen und Geschichten, und es gibt das Leben, wie es sich von Moment zu Moment entfaltet, und wenn beides offenkundig voneinander abweicht, gibt uns das die Möglichkeit sehr deutlich zu erfahren, dass beide Dimensionen nicht deckungsgleich sind, was sie natürlich nie sind. Unsere Begriffe und Konzepte, die alles dingfest machen, objektivieren, die wie ein Gitter sind, durch das wir auf die Wirklichkeit schauen, trennen uns vom lebendigen Strom des Wirklichen, können nie das Leben, wie es sich dynamisch von Moment zu Moment in uns und durch uns entfaltet, erfassen. Vielleicht könnte man sagen, dass wir mit dem Versuch, die Wirklichkeit zu erfassen und damit auch kontrollieren zu wollen, fortwährend scheitern. Das Leben, das selbst kein Scheitern kennt, entzieht sich diesen Versuchen. „Um das Leben anzunehmen, wie es ist, brauchen wir viel Mitgefühl für uns selbst“, las ich kürzlich. Das Gefühl des Scheiterns ist ein wunderbarer Türöffner für unser Mitgefühl.

Aber können wir denn überhaupt wirklich scheitern? Scheitern ist ja nichts, das tatsächlich geschieht; es ist ein Konstrukt, eine Vorstellung, die wir durch unsere Geschichten schaffen und am Leben erhalten.

Handeln ohne Abhängigkeit

Einen buddhistischen Lehrer hörte ich in einem Vortrag davon sprechen, dass die allermeisten von uns, wenn sie ihr Leben betrachteten, von vielfältigem Scheitern sprechen müssten, denn wer habe schon verwirklichen können, was er oder sie sich einmal vorgestellt oder erträumt habe. Aber, so fügte er hinzu, letztlich seien dann auch Jesus, Buddha, Gandhi, Mandela gescheitert, da ihre Visionen bis heute nicht verwirklicht sind. Dann zitierte er den tschechischen Dramatiker, Menschenrechtler und Politiker Václav Havel, der einmal gesagt hat: „Hoffnung ist nicht die Überzeugung, dass etwas gut ausgeht, sondern dass etwas sinnvoll ist, egal wie es ausgeht.“ Einen ähnlichen Gedanken formuliert der buddhistische Lehrer David R. Loy, wenn er davon spricht, wie wichtig es sei, dass wir angesichts der tiefen ökologischen Krise ins Handeln kommen, ohne unser Wohlergehen von Erfolg und Misserfolg abhängig zu machen. Dies charakterisiere auch den Bodhisattva-Weg, auf dem wir unermüdlich für das Wohl anderer tätig seien, ohne uns von den Früchten unseres Tuns abhängig zu machen. Dabei unterstützen uns die Qualitäten der Einsicht (in die Leerheit aller Dinge von einem eigenständigen Selbst) und des Gleichmuts. Angesichts der tiefgreifenden gegenwärtigen Krise fordert er uns auf, Ökosattvas zu werden und:

„ …ohne Anhaftung an Ergebnisse zu handeln. Das kann leicht als als Gleichgültigkeit missverstanden werden. Doch es ist unsere Aufgabe, unser Bestes zu geben, ohne zu wissen, was die Konsequenzen sein könnten – sogar ohne zu wissen, ob unsere Bemühungen überhaupt etwas bewirken. Wir wissen nicht, ob das, was wir tun, wichtig ist. Aber wir wissen, dass es für uns wichtig ist, es zu tun. Haben wir die ökologischen Kipppunkte schon überschritten und die Zivilisation, wie wir sie kennen, ist dem Untergang geweiht? Wir wissen es nicht, und das ist in Ordnung. Natürlich hoffen wir, dass unsere Bemühungen Früchte tragen. Aber letztendlich sind sie unser offenherziges Geschenk an die Erde.“ 4 Und unser Geschenk an uns selbst, unsere tiefe Verbundenheit mit allem zu erleben: Sie ist es, die uns tragen und immer wieder motivieren kann, einfach nur geradeaus zu gehen.

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