Fünf vor zwölf oder fünf nach zwölf?

Welche Impulse können alte spirituelle Traditionen geben, wenn es um Fragen wie Klimawandel oder Umweltzerstörung geht? Der Buddhismus-Kenner und Philosoph David Loy gibt dazu spannende Antworten, die zeigen, wie wir aus dem Nicht-Wissen heraus handeln können, ohne die Hoffnung zu verlieren, auch wenn die Probleme noch so groß oder unüberwindbar scheinen.
Text: Ursula Richard

Wälder brennen nun auch in Europa in verheerender Weise, im letzten Jahr starben Menschen und Tiere auch bei uns durch Überschwemmungen. Allerorten werden Hitzerekorde gebrochen und Trockenperioden immer länger. Hungersnöte nehmen zu, die Gletscher schmelzen in immer rasanterem Tempo, und mehr und mehr Orte auf der Welt werden wohl schon in den nächsten Jahren für Menschen unbewohnbar.

Vor allem in den USA wird seit einigen Jahren von Psychologen eine neue Form von Angststörung konstatiert: eco anxiety (Öko-Angst), die Angst vor ökologischen Katastrophen und Bedrohungen der natürlichen Umwelt. Auf der anderen Seite ist das Thema „Klimakatastrophe und wie wir ihr begegnen können“ als Sorgenthema, glaubt man jüngsten Umfragen, in den Hintergrund gerückt (hinter die Sorgen um steigende Lebensmittelpreise, den Krieg in der Ukraine, Corona). In der Politik wird angesichts drohender Energieknappheit über die Verlängerung der Laufzeiten von AKWs und Kohlekraftwerken und sogar über Fracking in Norddeutschland nachgedacht, und erst jetzt wird so richtig offenkundig, wie viel in den letzten Jahrzehnten beim Ausbau alternativer Energien verschlafen und wieder zurückgefahren wurde. Sind das alles nicht Gründe genug für ökologisch engagierte Menschen, zu verzweifeln und alle Hoffnung auf bessere Zeiten fahren zu lassen?

Gelassenheit, Freundlichkeit und Wachheit

Es tut gut, da jemandem wie David Loy zu begegnen. Er ist Professor für buddhistische und vergleichende Philosophie, Zen-Lehrer, Autor und Mitgründer des Rocky Mountain Ecodharma Retreat Center. Durch Kurse, Workshops und Vorträge werden dort Menschen unterstützt, die Kraft, das Erleben tiefer Verbundenheit und die Liebe wiederzugewinnen, die für einen wirkmächtigen Umgang mit den ökologischen und sozialen Herausforderungen notwendig sind. Die Betonung liegt darauf, von der Natur zu lernen und sich selbst inmitten der Wildnis zu entdecken. Bereits 2009 hat er gemeinsam mit dem bekannten Theravada-Lehrer Bhikkhu Bodhi eine traditionsübergreifende buddhistische Erklärung zum Klimawandel formuliert: „Jetzt ist die Zeit zum Handeln“. Als Erstes wurde sie vom Dalai Lama unterzeichnet, Hunderte buddhistische Lehrende folgten. In der Begegnung strahlt er keineswegs Resignation oder Verzweiflung aus ob der gegenwärtigen Situation, sondern eine große Gelassenheit, tiefe Freundlichkeit und Wachheit.

Ökosattva

Seit vielen Jahren beschäftigt ihn die Frage, welche Impulse die spirituellen Traditionen für den Umgang mit den gegenwärtigen großen Herausforderungen geben können. Der Buddhismus, so betont er immer wieder, kann uns nicht sagen, was wir tun sollen, aber er kann eine Menge Anregungen geben, wie wir etwas tun sollten. Im Buddhismus gibt es das Ideal oder den Archetypus des Bodhisattva. Dies sind Menschen, die wissen, dass sie auf tiefste Weise mit anderen verbunden sind und daher nie als Einzelne Befreiung finden können. Nur folgerichtig ist ihr tiefstes Bestreben, anderen zu helfen. Loy betont, wie wichtig es zudem heute ist, die gesellschaftliche und ökologische Dimension einzubeziehen. „Wenn wir dem Grundanliegen des Buddha beipflichten, das Leiden zu beenden, müssen wir dann nicht auch dessen gesellschaftliche Ursachen verstehen und angehen?“

Für David Loy sind die Bodhisattvas unserer Zeit Ökosattvas, die sich auf den Weg machen, gemeinschaftlich handlungsstark, gelassen, mitfühlend und vertrauensvoll der gegenwärtigen Klimakatastrophe zu begegnen. Auch Thich Nhat Hanh hat immer wieder den Aspekt der Gemeinschaftlichkeit betont und von der Notwendigkeit eines kollektiven Erwachens gesprochen. Für ihn wird der Buddha Maitreya, ein nach buddhistischer Vorstellung künftiger Buddha, kein Individuum, sondern eine Gemeinschaft sein.

Die Balance aus Engagement und persönlicher Praxis

Loy sieht den Ökosattva-Weg als den wichtigsten Beitrag des Buddhismus zu unserer gegenwärtigen Situation. Dieser Weg bietet eine neue Vision der Beziehung zwischen spiritueller Praxis und gesellschaftlichem sowie ökologischem Engagement: eine Alternative zum ungezügelten Individualismus, der sich sowohl in Selbstoptimierungsversuchen als auch in der vorrangigen Sorge um das eigene Erwachen zeigen kann, aber auch eine Alternative zu einem blinden Aktivismus, der oft in Resignation und Burn-out endet.

Doch auch wenn es ein gemeinschaftliches Projekt ist, auf den Weg machen müssen wir uns schon selbst. Wie aber finden wir heraus, wo wir uns engagieren sollten, angesichts der vielen Notlagen, Katastrophen, Leiden? Diese Frage wird Loy oft gestellt, und er empfiehlt, sich in die folgenden drei Bereiche zu vertiefen:

  1. Was habe ich in der gegenwärtigen Situation anzubieten? Wie sieht meine momentane Situation aus?
  2. Welche Möglichkeiten gibt es für mich?
  3. Was sagt mein Herz: Wie will ich meine Liebe zum Ausdruck bringen? Wo spüre ich die stärkste Resonanz?

Aus einer solchen Betrachtung erwächst das Vertrauen, dass eine Entscheidung von unseren tiefsten Sehnsüchten wie auch unseren realistischen Möglichkeiten gleichermaßen getragen ist, und so können wir uns auf den Weg machen: z.B. uns einer Gruppe anschließen, an Demonstrationen oder anderen Aktionen teilnehmen, uns um Hilfsbedürftige, um Geflüchtete kümmern oder uns an Bäume ketten, um ihre Abholzung zu verhindern.

Ebenso wichtig ist, dass wir uns in unseren Aktivitäten nicht verlieren, dass wir uns durch eine Praxis stärken, die unseren Geist klärt und unser Herz weitet. Das können eine regelmäßige Meditationspraxis sein, Yoga oder andere den Körper stark einbeziehende Praktiken, Austausch mit anderen, kreativ sein, gärtnern, uns viel in der Natur aufhalten … Es geht darum, Körper und Geist zusammenzubringen, uns immer wieder im Hier und Jetzt zu verankern und zu erden. Dann können wir auf einer tiefen Eben erleben, dass wir in unserem Leben ankommen, im Leben überhaupt. Und diese Erfahrung gibt Raum für das Vertrauen, dass wir Teil des Lebensstroms sind, des Gewebes des Lebens, und es nur unsere Gedanken sind, die uns vormachen, wir wären davon getrennt.

Handeln und Loslassen

Ökosattvas tun ihr Bestmögliches, ohne sich damit zu quälen, dass sie nicht absehen können, welche Folgen ihr Tun hat. Haben wir überhaupt noch eine Chance, durch unser Handeln etwas zu bewirken. Ist es noch fünf vor oder schon fünf nach zwölf ? Das wissen wir nicht, so Loy. Aber anstatt „sich vom Nicht-Gewussten einschüchtern zu lassen, leben Bodhisattvas aus einer Geisteshaltung des ‚Nicht-Wissens‘ heraus. Sie lassen sich nicht von dem tendenziell größenwahnsinnigen Anspruch überfordern, alles wissen und am besten auch kontrollieren zu müssen.“ Das nimmt viel von der Angst, die sich hinter unserem Zwang, alles wissen und kontrollieren zu müssen, oft verbirgt. Wir öffnen uns mehr dem gegenwärtigen Erleben und werden empfänglicher für neue Möglichkeiten und Wege.

Ökosattvas machen sich nicht vom Erfolg oder Misserfolg ihres Tuns abhängig, ihr Wohlergehen hängt nicht an den Früchten ihrer Taten. Auch dabei hilft eine spirituelle, meditative Praxis, die Selbstfürsorge einbezieht, sehr. Eine  hilfreiche Orientierung bieten auch die Worte des Dichters, Bürgerrechtlers und ehemaligen tschechischen  Präsidenten Vaclav Havel: „Hoffnung ist nicht die Überzeugung, dass etwas gut ausgeht, sondern die Gewissheit, dass etwas sinnvoll ist, egal wie es ausgeht.“ Auch der Dichter T. S. Eliot hat diese Geisteshaltung ausgedrückt: „Unsere Sache ist, es zu versuchen. Um den Rest müssen wir uns nicht sorgen.“

Der Verbundenheit vertrauen

Wir können vieles nicht wissen, wir kontrollieren viel weniger, als wir oft glauben, aber das muss uns nicht ängstigen, denn, wie Loy sagt, wir können dem Prozess vertrauen. Als die Baumeister mit dem Bau des Kölner Doms begannen, wussten sie, dass sie die Fertigstellung nicht erleben würden (es heißt ja, der Dom sei bis heute nicht fertig), aber sie haben vertrauensvoll begonnen. Und so können auch wir vertrauensvoll und voller Engagement unseren einzigartigen Beitrag leisten zum Wohle aller und sind gleichzeitig nur ein Wimpernschlag in der Geschichte des Universums, wie der Benediktiner und Zen-Meister Willigis Jäger gern sagte. Durch unser Handeln, unser Engagement verkörpern und stärken wir unsere Intuition, dass wir nicht getrennte Wesen sind, sondern miteinander verbunden, und damit setzen wir der gegenwärtigen gesellschaftlichen und ökologischen Misere etwas entgegen, denn sie ist letztlich Ausdruck einer viel tieferen, spirituellen Krise, deren Kern u.a. die Vorstellung der Getrenntheit und die Abwertung und Objektivierung der Natur ist. Leben wir unsere Verbundenheit, unser Einssein in der Verschiedenheit – tun wir unser Bestes – und dann lassen wir los, voller Vertrauen.

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David Loy: Erleuchtung, Evolution, Ethik. Ein neuer buddhistischer Pfad, edition steinrich 2015;
ÖkoDharma. Buddhistische Perspektiven zur ökologischen Krise, edition steinrich 2021

www.davidloy.org
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Dieser Text ist zuerst erschienen in:
moment by moment | Ausgabe 3-2022 | www.moment-by-moment.de

 

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