So tun, als wäre ich ein Mensch

Im Zen gibt es die Koan-Praxis; es geht um Geschichten, Sätze, Dialoge, die uns herausfordern, uns ganz tief für sie zu öffnen, eins mit ihnen zu werden, und daraus, aus der Mitte unseres eigenen Lebens heraus, Antworten zu finden. Meist werden Koans verwendet, die jahrhundertealt sind, in China, Japan oder Korea entstanden, und es ist oft schwierig, die kulturellen Bezüge, die Symbole und Bilder zu verstehen, die den Hintergrund des Koans bilden. In dem Buch Erwachen im Alltag[1] der Zen-Meisterinnen Eve Marko und Wendy Nakao sind die „Koans, die das Leben schreibt,“ wie der Untertitel im Deutschen lautet, verdichtete Lebensfragen und -probleme von Zenpraktizierenden heute, unmittelbar aus deren Alltagsleben.

Seit einiger Zeit treibt mich ein Koan aus dieser Sammlung um, in dem eine Frau ihre Zenlehrerin fragt, was sie jetzt praktizieren solle. „Tu so, als wärest du ein Mensch“, antwortet diese. „Aber ich bin ein Mensch!“, entgegnet die Frau. „Deswegen musst du auch so tun“, entgegnet die Lehrerin. Eve Marko beschreibt in ihrem Kommentar, wie das fünfjährige Kind einer Freundin bei einem Besuch auf allen Vieren herumkrabbelte und dabei: „Wau, wau“ machte. Auf die Frage, ob es so täte, als wäre es eine Katze, antwortete das Kind: „Nein, nein. Ich tue so, als wäre ich ein Hund.“ „Wie machst du das? „Wau, wau!“ Dieses Spiel, so schreibt Eve Marko, „gefiel mir so sehr, dass ich am nächsten Tag so tat, als wäre ich ein Mensch. Ich stand morgens auf und ging unter die Dusche, machte mir einen Kaffee, meditierte, wünschte meinem Mann einen guten Morgen und fütterte den Hund.“

Auch mit meiner dreijährigen Großnichte spielte ich vor einiger Zeit das Spiel „So-tun-als-wären wir-Menschen“. Sie wies mir die entsprechenden Rollen zu. Nachdem wir unsere beiden kleinen Kinder (Puppen) gestillt und selbst etwas gegessen, dann in ihrem kleinen Einkaufsladen fürs Mittagessen eingekauft hatten, rollten wir die Yogamatten ihrer Eltern aus, sie drückte auf ein schwarzes Brillenetui, sagte: One, two, three, vier, fünf, sechs und ging ein paar Mal in die Position des herabschauenden Hundes. Dann drückte sie mir ein Bilderbuch in die Hand, nahm selbst auch eins und sagte, dass dies jetzt unsere Laptops wären und wir jetzt arbeiten würden. Dafür gingen wir ins Schlafzimmer, setzten uns auf das breite Bett ihrer Eltern, und begannen zu tippen. „Jetzt machen wir es uns aber so richtig gemütlich“, sagte sie, mich lachend mit ihren großen Augen anschauend, bevor wir dann nach wenigen Minuten wieder zu unseren Babys gingen, um nach ihnen zu schauen.

„Tu so, als wärest du ein Mensch!“ Aber was ist ein Mensch? Jenseits aller Rollen. Im Zen spricht man vom wahren Menschen ohne Rang und Namen. Gibt es da eine Essenz? Dieses Koan drängt dazu, die Frage tiefer auszuloten, was mich zum Menschen macht, was mein Menschsein ausmacht. Was meine Werte sind. Wie ich sie in konkreten Situationen lebe. In meinem nahen Umfeld, in der Begegnung mit anderen, mit Notleidenden, wenn ich Nachrichten höre, lese. Wie verkörpere ich dann mein Menschsein. Shunryu Suzuki, der Gründer des San Francisco Zen Centers, sagte: Einfach du selbst sein ist genug.“ Bernie Glassman drückte es so aus: „Sei einfach ein menschliches Wesen, das ist die beste Praxis.“   Aber er sagte auch – und dies im Konzentrations- und Vernichtungslager Auschwitz-Birkenau: „Wir möchten so gern glauben, dass es etwas gibt, das uns allen gemeinsam ist. Philosophen und Religionsführer suchen danach und möchten gern darauf verweisen: Was ist das Grundlegende? Die einzige Gemeinsamkeit, die ich bei uns allen feststelle, ist unsere Verschiedenheit.“

Im November letzten Jahres habe ich erstmals an einem Bearing Witness Retreat der ZenPeacemaker in Auschwitz-Birkenau teilgenommen, eine Retreatform, die von Bernie Glassman entwickelt wurde, nachdem er bei einem interreligiösen Treffen Auschwitz-Birkenau als einen zutiefst sakralen, transformativen Ort erfahren hatte. Das Koan hat mich dabei begleitet, wie ein Geländer, das mir half, mich nicht zu verlieren. Bei einer Führung über das riesige Arreal des Vernichtungslagers Birkenau mit seinen Barracken, Wachtürmen, den Stacheldrahtanlagen, Resten der Krematorien und Gaskammern zeigte uns unsere polnische Guide an einem Pfahl ein groß aufgezogenes Foto, das Menschen zeigt an genau dieser Stelle, ich erinnere mich vor allem an Frauen allen Alters mit Kopftüchern, an Jungen und Mädchen, die umherzulaufen schienen, vielleicht spielten sie auch. Sie sahen in die Kamera. „Es waren Menschen aus Ungarn“, sagte unsere Guide, „sie wurden von der Rampe direkt mit Lastwagen hergebracht, um ermordet zu werden. Ihnen wurde aber gesagt, dass sie nun in ein Arbeitslager kämen, und so etwas kannten sie zum Teil schon von Ungarn her, wo sie bereits interniert gewesen waren. Sie fühlten sich sicher, wussten nichts von ihrem nahen, schrecklichen Tod, und so sehen sie gar nicht ängstlich aus, eher gelassen.“ Dieses Bild hat sich mir damals scharf eingebrannt. Ganz in der Nähe ist ein See, der die Asche Hunderttausender birgt, Seerosen schwimmen im Wasser, Libellen fliegen umher, Frösche quaken, Wassertropfen zittern an Grashalmen und leuchten in der Sonne. Die Natur ist an diesen Ort zurückgekehrt. Das Leben ist wieder da in seiner Magie, Schönheit und Pracht. Es hatte geregnet und auf den Wegen haben sich Pfützen gebildet. Für uns vielleicht etwas lästig, immmer wieder auf den Weg schauen zu müssen, um sie zu umgehen. Für die Menschen damals waren sie überaus kostbar diese Pfützen – Wasser zum Trinken. Sehe ich die Dinge, wie sie wirklich sind? Nein, ich sehe meine Konzepte und Vorstellungen, sie sind meiner Wahrnehmung schon unterlegt, aber dieser Ort rüttelt immer wieder daran, zerstört, pulverisiert sie, nimmt mir aber auch die Hoffnung, ich könnte jemals tatsächlich ermessen, was es bedeutet hat, hierher transportiert worden zu sein, hier zu leben. Die allermeisten Menschen wurden sofort nach ihrer Ankunft getötet; viele, die als arbeitsfähig eingestuft wurden, lebten nur einige Wochen oder Monate.  Kaum mehr als 7000 wurden von der Sowjetarmee befreit. Einige Überlebende legten Zeugnis ab von ihrem Leben und Leiden hier, durch Aussagen vor Gericht, Vorträge, Filme, durch Bücher, Zeichnungen und Bilder. Viele schwiegen.

Fünf Tage lang haben wir – eine Gruppe von rund 80 Menschen aus vielen Ländern – den größten Teil des Tages auf dem Gelände des Vernichtungslagers Birkenau verbracht. Wir haben Teile des Geländes besichtigt, auf der Rampe, wo die Selektionen stattfanden, meditiert und Namen von Ermordeten laut rezitiert. Es gab jüdische, christliche, buddhistische Zeremonien und Rituale aber auch Zeit, einfach umherzuschweifen, uns einzulassen auf diesen Ort und das, was er jeweils in uns wachrief. Die Form und Gestaltung des Retreats hat dafür die denkbar besten Bedingungen und einen geschützen Raum geboten. An einem Morgen besichtigen wir Frauen eine Baracke im Frauentrakt, angeführt von der Rabbinerin Ewa aus New York, die bereits einige Male an dem Retreat teilgenommen hat. Sie hat so etwas ungemein Lebensbejahendes, Positives, Herzerwärmendes, ihre Gegenwart tut gut. Ich bleibe noch länger in dem Raum, während die anderen schon weiterziehen, durchschreite ihn mehrfach und verbeuge mich immer und immer wieder vor denen, die hier eingepfercht waren. Sehe die Bretter, auf denen die Frauen schlafen mussten, und auf einmal höre ich die Stimme meiner Großnichte, die sagt: „Komm, jetzt machen wir es uns hier so richtig gemütlich.“ Dieser Satz, so absurd unpassend und unangemessen er mir erscheint, weitet in gewisser Weise meinen Blick und ich sehe, dass es auch hier nicht nur Leiden, Kälte, Schmerz, Tod gegeben haben wird, sondern auch Freude, Lachen, Nähe, Liebe, Wärme, Leben, und vielleicht, ja, auch gemütliche Momente – und auch das gilt es zu bezeugen.

Auschwitz-Birkenau ist ein so machtvoller, kraftvoller, zutiefst heiliger Ort, wie ich noch keinen zuvor erlebt habe. Die Spannbreite dessen, was wir Menschen sein können, wenn wir so tun, als wären wir Menschen, ist so weit und so unmittelbar spürbar, so roh da; Auschwitz-Birkenau ist ein Ort – er gilt als der größte Friedhof der Menschheitsgeschichte –, der Hass, Wut, den Drang zur Vernichtung, Demütigung,  Unfreiheit, Entwürdigung, Entmenschlichung, ebenso beheimatet wie Liebe, Mitgefühl, Fürsorge, gegenseitige Unterstützung, Gelassenheit, innere Freiheit und Würde. All das findet sich dort im Übermaß, atmosphärisch ist es da, in oft fast überwältigender Weise spürbar. Wir haben uns in einem nah gelegenen Kloster die Ausstellung der Zeichnungen und Bilder von Marian Kolodziej (1921-2009) angeschaut, einem Überlebenden des Lagers, der später beruflich erfolgreich als Bühnenbildner für Theater und Film gearbeitet und nie über seine Zeit in Auschwitz  gesprochen hat. Bis er  nach einem Schlaganfall 1992, um seine Motorik zu verbessern, einen Stift nahm und zu zeichnen begann und er zeichnete und zeichnete und zeichnete – Bilder des Grauens und der Hölle, gegen die die Bilder Hieronymos Boschs wie Darstellungen harmloser Sonntagsausflüge wirken, aber man findet in ihnen auch die Liebe und den Himmel. Es gibt Zeichnungen von Christus am Kreuz, dessen Oberkörper vornüber gebeugt ist, und mit seinen Armen umfängt er Menschen, die sich dicht aneinanderdrängen, aber auch sie scheinen ihn zu stützen.

Wie unter einem Brennglas wird an diesem Ort so übergroß sichtbar, was alles menschen-möglich und damit auch mir-möglich ist. Das hat mich auf der einen Seite immer wieder fassungslos gemacht und das Gefühl gegeben, in einen Abgrund zu blicken, auf der anderen Seite wurde mir so klar, wie selten zuvor, wie wichtig es ist, eine Art moralischen Kompass für sich zu haben, sich die eigenen Werte bewusst zu machen, sie auch immer wieder auf den Prüfstand zu stellen und sie dann klar zu verkörpern, so gut es jeweils möglich ist. Viele Retreat-Teilnehmende spürten am Ende den starken Impuls, sich künftig mehr zu engagieren, aktiver zu sein, etwas bewirken zu wollen, sich in den Dienst zu stellen.

Bernie Glassman hat mal gesagt, dass es im bei diesen Retreats in Auschwitz nicht um das Thema Holocaust, sondern um die Frage: Wie gehen wir mit den Anderen, dem Andersartigen um. «Wir alle haben unsere Clubs, und was diese Clubs ausmacht, ist, wer nicht dazu gehört. Wir haben unsere Methoden entwickelt, um die, die wir nicht drin haben wollen, auszuschließen. Wir ignorieren sie oder verprügeln sie, stecken sie ins Gefängnis oder töten sie.»

Im Stammlager Auschwitz sahen und hörten wir eine Rede Adolf Hitlers, in der er seine Sicht über die Juden herausschreit. In meinem Kopf überlagern sich diese Bilder immer wieder mit Auftritten jenes Menschen, der im November noch Kandidat und inzwischen Präsident der USA ist. Aber so weit müssen wir ja gar nicht schauen, es reicht der Blick vor die eigene Haustür oder in die Gärten unserer europäischen Nachbarn, um zu erkennen, wie Stimmung gemacht wird gegen Gruppen von Menschen, wie sie zu den Anderen werden, zu den Gefährlichen, die man hier nicht haben will. Es werden wieder Lunten gelegt … Aber auch so weit müssen wir nicht gehen, in mir selbst finde ich all das wieder, die Neigung, den anderen nur so lange zu akzeptieren, wie er meinen Vorstellungen entspricht, wie er zu meinem Club gehört, mich bestätigt, ansonsten … Oder wenn ich mir anschaue, welche Eigenschaften ich an mir mag und welche nicht und die sollten am besten auch direkt weg …

Auf der Klaviatur unseres Menschseins gibt es so viele Töne, um sie zu wissen, erscheint mir wichtig. Dann können wir entscheiden, welche wir erklingen lassen, welche Melodie wir spielen wollen.

„Gott, gib mir die Gelassenheit, Dinge hinzunehmen, die ich nicht ändern kann, den Mut, Dinge zu ändern, die ich ändern kann,  und die Weisheit, das eine vom anderen zu unterscheiden.“ Diese Worte des US-amerikanischer Theologen, Philosophen und Politikwissenschaftlers Reinhold Niebuhrs sind mir in den letzten Monaten immer öfter in den Sinn gekommen und ich spüre den wachsenden Wunsch, sie stärker als eine Art Notation zu nutzen. Formuliert hat Niebuhr dieses „Gelassenheitsgebet“ vermutlich Anfang der 1940er Jahre, sich laut Wikipedia, dabei aber vermutlich auf Vorläufertexte mit einem ähnlichen Tenor gestützt. Ursprünglich bat er darin sogar um den Mut, die Dinge zu ändern, die geändert werden müssen, nicht nur geändert werden können.

Ja, und manchmal müssen Dinge auch geändert werden und es gibt viele Beispiel von Menschen, die über sich hinauswachsen, um das zu tun, was sie sonst nicht zu tun vermocht hätten. Auch, aber natürlich nicht nur, in Auschwitz hat es sie gegeben, und sie sind die großen Leuchttürme in dunkler Zeit, die Orientierung bieten für das „So-tun-als-ob-ich-ein-Mensch-wäre-Spiel“. Aber das können letztlich auch wir sein, als kleine Leuchttürme können wir in unserem Umfeld durch Freundlichkeit, Hilfsbereitschaft, mitfühlendes Handeln erhellend wirken. Der 82 jährige US-amerikanisch-britische Soziologe Richard Sennett hat einen Tag nach der Inauguration von Donald Trump in einem Interview in der ZEIT den Rat gegeben: „Tu etwas, das gut für die Welt und gut für dich ist.“

„Nenne mich bei meinen wahren Namen“ (wichtig ist der Plural!) heißt das sicherlich bekannteste Gedicht von Thich Nhat Hanh.[2] Er hat so viel über die ganze Spannbreite unseres Menschseins gewusst und sein Wissen oft in poetischen Bildern vermittelt. In diesem Gedicht heißt es:

 

„ …

Ich bin das Kind aus Uganda, nur Haut und Knochen,

mit Beinchen, so dünn wie Bambusstöcke;
und ich bin der Waffenhändler,
der todbringende Waffen
nach Uganda verkauft.

Ich bin das zwölfjährige Mädchen,
Flüchtling in einem kleinen Boot,
das von Piraten vergewaltigt wurde
und nur noch den Tod im Ozean sucht;
und ich bin auch der Pirat –
mein Herz ist noch nicht fähig, zu erkennen und zu lieben.

Ich bin ein Mitglied des Politbüros
mit reichlich Macht in meinen Händen;
und ich bin der Mann, der seine »Blutschuld«
an sein Volk zu zahlen hat
und langsam in einem Arbeitslager stirbt.

Bitte nenne mich bei meinen wahren Namen,
damit ich all mein Weinen und Lachen
zugleich hören kann,
damit ich sehe,
dass meine Freude und mein Schmerz eins sind.

Bitte nenne mich bei meinen wahren Namen,
damit ich erwache,
damit das Tor meines Herzens
von nun an offensteht –
das Herz des Mitgefühls.“

 

Er hat dieses Gedicht 1978 geschrieben, in einer Zeit, als er, seine Weggefährtin Schwester Chan Khong und andere, sehr aktiv bei der Rettung von Boat People mitgewirkt haben. Das Mitgefühl von dem er hier spricht, ist also weit mehr als ein Gefühl, es drängt zum liebevollen Handeln.

Möge in mir der Mut wachsen, Dinge zu ändern, die Gelassenheit, Dinge hinzunehmen, die ich nicht ändern kann, und die Weisheit, das eine vom anderen zu unterscheiden.

[1] Eve Myonen Marko, Wendy Egyoku Nakao, Erwachen im Alltag, Koans, die das Leben schreibt, edition steinrich, Berlin, 2021

[2] aus Thich Nhat Hanh, Nenne mich bei meinen wahren Namen, Ausgewählte Gedichte, Droemer Knaur, 2020

 

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Dieser Text ist zuerst erschienen auf:
https://zen-imgruenenring.ch

Text: Ursula Richard | Illustrationen: Rie Takeda

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