„Nenne mich bei meinen wahren Namen“

So lautet der Titel des wohl bekanntesten Gedichtes von Thich Nhat Hanh. Er schrieb es 1978, nachdem er die Nachricht erhalten hatte, dass ein junges Mädchen auf einem der Flüchtlingsboote im Golf von Siam vergewaltigt worden war und sich daraufhin ins Meer gestürzt hatte. In dem Gedicht heißt es unter anderem:

Ich bin das zwölfjährige Mädchen,
Flüchtling in einem kleinen Boot,
das von Piraten vergewaltigt wurde
und nur noch den Tod im Ozean sucht;
und ich bin auch der Pirat –
mein Herz ist noch nicht fähig, zu
erkennen und zu lieben.

Bitte nenne mich bei meinen
wahren Namen,
damit ich erwache,
damit das Tor meines Herzens
von nun an offensteht –
das Tor des Mitgefühls.

Thich Nhat Hanh habe ich Mitte der 1980er Jahre kennengelernt, als ich erstmals sein Praxiszentrum Plum Village
in Südfrankreich besuchte. Auch wenn ich formal nie seine Schülerin gewesen bin, ist er, so sehe ich das heute, mein Wurzellehrer und hat mich sehr tief geprägt. Im Laufe der Jahrzehnte habe ich viele seiner Bücher übersetzt oder herausgegeben, so auch einen Band mit seinen Gedichten.

In den letzten Wochen ist mir dieses Gedicht immer wieder in den Sinn gekommen, ebenso wie ein Ausspruch, der sich auch als Zeile eines Gedichtes dieser Sammlung findet: „Der Mensch ist nicht unser Feind. Gier, Hass, Gewalt und Verblendung sind unsere Feinde.“ Auf unsere Gegenwart bezogen könnte ein Vers des obigen Gedichtes lauten (zahllose weitere ließen sich hinzufügen):

Ich bin das zwölfjährige Mädchen,
mit meiner Mutter auf der Flucht aus Butscha,
erschossen am Straßenrand liegend;
und ich bin auch der Soldat –
mein Herz, voller Angst und Zorn,
noch nicht fähig, zu erkennen und zu lieben.

Die Radikalität der Sichtweise in den Versen Thich Nhat Hanhs, die buddhistische Konzepte wie Abhängiges Entstehen oder Einssein und Verbundenheit ins konkrete Leben holen, trifft mich gegenwärtig immer wieder mit großer Wucht. Ich bin nicht nur die, die in Berlin lebend sich gerade Gedanken macht, was sie zu dieser Heftausgabe beitragen kann, sondern ich bin auch ein junges Mädchen, das gerade von einer Kugel getroffen sterbend zu Boden sinkt, und ebenso ein Soldat, der das Mädchen sieht, vielleicht noch zögert, ob oder ob er nicht …, und dann abdrückt. Ich bin auch diese beiden beziehungsweise ich bin alles. Wirklich alles? Was heißt das aber, wenn es nicht nur eine schwindelerregende, aber auch schnell wieder vorbeiziehende Idee bleibt? Was folgt daraus für das eigene Denken, Sprechen und Handeln? Für Thich Nhat Hanh war es ein Verzicht auf Parteinahme, er unterstützte im Vietnamkrieg weder die kommunistische noch die kapitalistische Seite, war maßgeblich an der Entwicklung eines engagierten Buddhismus beteiligt, half gemeinsam mit anderen den Opfern des Krieges, trat ein für Frieden,  Gerechtigkeit und Gewaltlosigkeit und entwickelte buddhistische Praktiken … „damit das Tor meines Herzens von nun an offensteht – das Tor des Mitgefühls“. Eine damals wie heute zutiefst mutige Position, ein Leuchtturm, der
in diesen dunklen, stürmischen Zeiten Orientierung geben kann.

Bei Krishnamurti lese ich: „Erkennt man, dass das eigene Bewusstsein das Bewusstsein der Menschheit ist und dass man für das menschliche Bewusstsein voll verantwortlich ist, dann wird die Freiheit von der Begrenzung dieses Bewusstseins außerordentlich wichtig.“ Das heißt, ich kann die Frage, die schon so viele umgetrieben hat: „Wie kommen Hass und Krieg in die Welt“, dadurch tiefer ausloten, dass ich studiere, wie sich in meinem Geist Hass oder Wut, Gewalt und Verblendung zeigen und Ausdruck suchen und muss mich nicht in abstrakten Ideen verlieren, um das Unfassbare fassbar zu machen. Ich gehe spazieren, schnellen Schrittes, die Waldlandschaft ist in Schnee eingehüllt und es schneit weiter.

In mir tobt rasender Zorn, befeuert Gedanken über schon wieder gekränkt- und zurückgewiesen worden sein, über sich rächen und heimzahlen, und das nährt wiederum Gefühle von Zorn, Schmerz, Wut und Verzweiflung … und dann von einer tiefen, paniknahen Angst. In mir formulieren sich Sätze, die verletzen und vernichten wollen. In kurzen Momenten sehe ich die dicken Schneeflocken und sie scheinen mir zuzurufen: Bitte schau uns an, nimm doch unsere Schönheit wahr … und ich schaue ihnen zu, wie sie tanzend herabsinken und sich dann bei der Landung auf dem Waldweg sofort auflösen. Alles so nah beieinander, ein Prozess … und schon bin ich wieder in meinem Zorn und meinen Gedankenketten verschwunden … aber die Schneeflocken sind geduldig mit mir und rufen mich wieder und wieder … und die Momente werden länger, in denen ich bei ihnen bin, und zart regen sich Gefühle des Friedens, der Weite und ja auch der Liebe. Und nach einer Weile umarmen und halten sie die Wut und die Angst.

Verzweiflung und Liebe und Schneeflocken und Wind werden zu einem Erleben im weiten Raum der Stille. Bis zum nächsten Mal …

 

 

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